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Silvia Lerín: Dialog zwischen der Oberfläche und dem Hintergrund der Malerei.

Text des Cracks in Matter-Katalogs herausgegeben von OAM Palau de la Música in Valencia. 2009. Legal Deposit: V-4479-2009 / I.S.B.N 978-84-692-7434-7 (englische und spanische Übersetzung verfügbar)

Ich erinnere mich noch ganz genau an die Vorlesungen während meines Doktors, die in den achtziger Jahren Dank eines Abkommen von vielen der Dozenten der Fakultät für Schöne Künste San Carlos besucht wurden. Unter den Teilnehmern befanden sich viele der heutigen Professoren und Leiter der Fachbereiche und Spezialgebiete der Fakultät. Das damalige Thema war die Analyse und Untersuchung des Werkes “Ästhetik” des Philosophen  Nicolai Hartmann (1882-1950). Es handelt sich dabei um einen interessanten Nachlaß, der von einem Standpunkt der Mischung aus Phänomenologie und einem eigenen Neukantianismus der marburger Schule ausgeht. In dem Werk befasst er sich mit dem Verhältnis/Analogie zwischen den wesentlichen Schichten des Kunstwerkes und  dem Moment der ästhetischen Erfahrung des  Betrachters.

Die Erinnerung an diese so lehrreichen Vorlesungen kommt mir gerade wegen dem aufschlussreichen Titel der plastischen Vorschläge von Silvia Lerín “Dialog  zwischen der Oberfläche und dem Hintergrund der Malerei” in den Sinn. Denn diese Vorlesungen öffneten einen längere Zusammenarbeit (mehrere Jahrzehnte) zwischen verschiedenen Universitäten und ganz besonders zwischen der Fakultät  für Philosophie und der Fakultät für Schöne Künste.

Mehr als einmal haben mich diese Dozenten an die Grundkenntnisse von Nicolai Hartmann erinnert,   an die Verhältnisse zwischen dem Vordergrund, mit seinem sinnlichen und materiellen Reichtum, und dem Hintergrund, mit seinen Rissen, Schichten und Ebenen.

Ehrlich gesagt ist es nicht das erste Mal, dass ich über die künstlerische Laufbahn von Silvia Lerín schreibe (Valencia 1975) oder gar ihre Kunstwerke analysiere. Ganz im Gegenteil, ich habe oft die Gelegenheit gehabt, mir ihre Werke bei Wettbewerben  und eigenen oder kollektiven Ausstellungen anzuschauen. Es wird deshalb niemanden wundern, dass ich, der ihren hervorragenden Lebenslauf und ihre verdienten Errungenschaften gut kenne, sie meinerseits innerhalb des künstlerischen Umfeld Valencia für einen der wichtigsten Werte der letzten zehn Jahre halte und dass ich ihre Schritte seit Ende der Neuziger und Anfang des neuen Jahrhunderts verfolge.

In diesem Sinne kann ich nur sagen, dass mein Lob ihr gegenüber, den ich übrigens mit anderen Kollegen und Spezialisten teile, sich unter den heutigen Umständen als gerechtfertigt herausgestellt hat. Und ich bin mir sicher, dass zukünftig meine Aussagen auch im größeren Ausmaße bestätigt werden.

Diese philosophischen Grundkenntnisse, geführt von der Expertenhand Nicolai Hartmanns, zwischen dem Vordergrund und dem Hintergrund, zwischen der malerischen Oberfläche und den Rissen des Hintergrundes, haben sich wieder einmal als historisch zutreffend herausgestellt, wie die Madeleine von Proust. Und genau deshalb finde ich es angebracht, diese Erinnerungen  wieder zum Vorschein zu bringen, und zwar gerade bei  der Ansicht dieses Titels: “Risse in der Materie”.

Und ehrlich gesagt ist die Anwendung dieser Methode mir nicht unangenehm. Ich gestehe, dass ich diese theoretischen und historischen Leitfaden immer gerne und  gewissenhaft benutzt habe, um zu einer gewissen Erkenntnis innerhalb der aktuellen künstlerischen Herstellung zu gelangen. Und ich hoffe es weiterhin tun zu können.

Ich halte es trotzdem für angebracht, einen Rückblick auf die letzten zehn Jahre der malerischen Tätigkeit von Silvia Lerín zu werfen, denn ihr Beitrag ist meiner Meinung nach einer der kohärentesten und interessantesten ihrer Generation. Diese ist eine sehr unruhige und aktive Generation, die ihr Studium an der Fakultät für Schöne Künste San Carlos gerade Ende der Neuziger Jahre beendet hat, ein Jahrzehnt, auf das kein Kunstwissenschaftler oder -chronist, der von sich etwas hält, verzichten kann.

Es handelt sich um eine Generation von Künstlern, die sich in den Hörsälen der Fakultät ausgebildet haben, die sich innerhalb des valenzianischen Umfelds durch neue Projekte in diesem Fachbereich ausgezeichnet haben und die jetzt auf die internationale Ebene blicken. Und diese Ereignisse dürfen auf keinen Fall in Vergessenheit geraten, denn jeder Einzelne dieser Generation hat seinen eigenen Weg eingeschlagen und Ziele gesetz. Es war nie einfach, weder hat es ihnen an Anspannung gemangelt, noch haben sie Anstrengungen bei der Erlangung dieser Ziele eingespart. Ganz im Gegenteil, sie haben es geschafft, ihre Werke sehr persönlich und einzigartig in ihrem Stil zu gestalten. 

Und genau dort, nämlich zwischen den persönlichen und kollektiven Herausforderungen,  hat Silvia Lerín ihren malerischen Beitrag eingerichtet, nämlich durch eine sehr eigene Neudarstellung der geometrischen Abstraktion, eine Wiederbelebung des Konstruktivismus, der über die Grenzen der reinen Formen hinweggeschritten ist.

Tatsächlich hat sie in ihren Kunstwerken den Triumph der Komposition gut mit dem systematischen Zusammenhang von ausgeklügelten Spielen der geometrischen Figuren mischen können. Dieser Zusammenhang erlangt eine solche Wichtigkeit und wird so anschaulich, dass er meistens den Titel des Werkes bestimmen. Deshalb sind Titel, wie zum Beispiel: “intersecciones entre planos”,  “superposiciones”, “hendiduras”, “separaciones”, “fracturas”, “ensamblajes”, “divisiones”, “deslizamientos”, “yuxtaposiciones”, “cobijos”, “inestabilidades”, “movimientos” oder “interferencias” sehr erläuternd bei der Erkenntnis des Sinnes und Zweckes vom Kunstwerk und der Vorfälle in der Materie, der Ereignisse, Missgeschicke und Zufälle.

Mit dieser ausdrucksvollen Geometrie schafft sie nicht nur Kräfte innerhalb der studierten Elemente (Linien, Formen oder Figuren), sondern steigert sie sich mit einer ruhigen Hand auch innerhalb dem Bereich der Farben. Geometrie und Farbe, Struktur und Menge genau so wie Texturen und Materie (drittes Mischungselement) treffen hier aufeinander, und werden bei dieser Erfahrung zum Kernpunkt der bearbeiteten Aspekte.

Dies sind, im Grunde genommen, die Hauptdarsteller, die immer Hand in Hand mit der Kategorie “Verhältnis” die Spielregeln vorschreiben. Es ist ein Zusammenhang zwischen Farben, Flächen und geometrischen Figuren oder auch Texturen, zwischen verschiedenen Laviertechniken oder der Durchsichtigkeit, Frottieren, zwischen Ebenen der Komposition, Rissen, Neigungen  oder abgestuften Drehungen, zwischen geometrischen Formen, vorzugsweise rechtwinklig, an treibenden oder an festen Punkten. Ein Vademekum für Flächen, Figuren und Hintergrund, die heimlich ihre Risse in der Materie vertiefen.

Doch blicken wir einmal zurück auf Denis Diderot, denn gerade Er wies schon Mitte 18. Jahrhundert in den Seiten der “Encyclopédie” darauf hin, dass die Definition jeder Art von Schönheit, sei es in der Natur oder in den Künsten, völlig von der Kategorie  Verhältnis abhängt. Dazu sei gesagt, dass er innerhalb der Kunstkritik die Definition von Schönheit immer geschickt besonders mit der Malerei in Einklang zu bringen wusste.

Deshalb wollen wir unsererseits klarstellen, dass es etwas völlig anderes ist, innerhalb der malerischen Praxis Elemente in Zusammenhang zu bringen, als diesen Prozess zum Hauptteil der Überlegung zu machen, zum Übungsplatz für Versuche und Erfahrungen und zum wirksamen Ansatz für mehr Kreativität.

Aus dem Standpunkt der Komposition aus gesehen und als Professor der mathematischen Logik erlaube ich mir zu sagen, dass die malerische Ausdrucksform von Silvia Lerín grundsätzlich aus (a) primitiven Elementen und (b) Grundregeln der Transformation besteht.

Weitere Werke können davon abgeleitet werden und man könnte auch noch weitere und komplexere Theoremen einfügen, dabei ihre Konsistenz und Vielfalt immer beibehaltend. So geben abgeleitete Elemente und plötzlich aufgekommene Vorschriften ihrer malerischen, konstruktivistischen Ausdrucksform eine neue Erscheinung, ohne dabei die Kohärenz zu verlieren, vorausgesetzt, dass die Prinzipien, Elemente und Verhältnisse ihren entsprechenden Platz einhalten und ihren Zweck zum Ausdruck bringen.

Doch kommen wir noch einmal zurück zu den phänomenalistischen Grundkenntnissen von Nicolai Hartmann. Für ihn erhält die Oberfläche des Vordergrunds ihre Wichtigkeit gerade durch die sinnliche und materielle Ladung. Dort ergibt sich die Erotik, der wiederkehrende Genuss der Anschauung des Bildes. Um jedoch gerecht zum ganzen Reichtum zu sein und über die flüchtig erwachte Sinnlichkeit hinwegzusehen müssen wir bis in die wahrgenommen und erfassten Verhältnisse der ästhetischen Erfahrung eindringen, denn genau auf diese Art und Weise trifft die Sinnlichkeit auf den Bereich des Intellektes und dort ist es, wo wir auf die Geometrie stoßen.

Sollte man denken, dass die konstruktivistischen Ausdrucksformen, d.h. die geometrische Abstraktion, gerade an der Oberfläche, nämlich zwischen der Sinnlichkeit und dem Intellekt, völlig frei und grenzenlos sind?  Auch dann, wenn sie gerade innerhalb der sinnlichen Emotionalität und der berechenbaren Gelassenheit des Verstandes ihren wichtigsten Erfolg erzielen?

Es steckt oftmals eine sehr große und weit verbreitete Versuchung hinter dieser Frage. Warum nicht dieser phänomenalistischen Anregung bis zur ästhetischen Erfahrung des Hintergrundes folgen, unsere analytische Überlegung fortführend?

Es ist nicht so, dass wir beim Angehen der Gesamtstruktur des Werkes die erzielten Erfolge der Oberfläche auf einen zweiten Platz verweisen, sondern muss man darauf bestehen, dass die mit Sinnlichkeit erlebbaren und mit Intellekt erfassbaren Ebenen beibehalten werden, auch wenn sie schon wahrgenommen worden sind. Das Gleiche gilt für die Etappen, die sich noch entwickeln können.

Beim Eintritt in den Hintergrund, bei der Erforschung dessen Risse, erinnert uns Hartmann an die Wichtigkeit der Bedeutungen, der Vorstellungskraft oder den Ausdruck von Gefühlen, die der Betrachter in dieser Lektüre des Werkes aktiviert, verstärkt und wahrnimmt. Genau so werden die schon erlebten sinnlichen Materialien und deren Verhältnisse zu Symbolen und öffnen so einen Weg zu symbolischen Ladungen und Ausprägungen, ohne dabei ihre sinnlich wahrnehmbaren (materiellen) oder ihre förmlichen (Werte der Oberfläche) Werte zu verlieren.

Nun aber geht es darum, dass das Erscheinen der wesentlichen Werte des Kunstwerkes zum Vorschein gebracht wird, ohne dadurch die erkannten Schichten der Oberfläche zu vergessen.

Diese sind keine Werte, die in den Rissen des Hintergrundes versteckt sind. Tatsächlich ist das ganze Werk, verstanden als komplexes Wahrnehmungsobjekt, in  der Oberfläche  eingerichtet, obwohl die Wurzeln des Werkes sich durchgraben und wirksam über die Werte der Oberfläche hinwegwachsen und so die Lektüre und hermeneutischen Möglichkeiten vermehren.

Tragen den Farben, Texturen, Komposition, materielle Ladung, geometrische Formen und deren Verhältnisse in der malerischen Oberfläche nicht gerade auch Emotionalität, Anspannung, gelernte Ausdruckskräfte, Gemütsverfassungen, symbolische Kräfte oder allegorische Spiele, Metaphern und Metonymien zur Folge? Und können diese nicht den eigenen Werten der Oberfläche, mit wesentlichen Beiträgen und aufgespürten Bedeutungen durchwachsen, der Wahrnehmung neue Möglichkeiten verleihen?

Diese sind kurzgefasst die Überlegungen von Nicolai Hartmann bezüglich dem Thema. Ehrlich gesagt hat die Ausstellung der letzten Werke von Silvia Lerín in mir den Anreiz geweckt, den Grundkenntnissen bezüglich der Wahrnehmung in ihren Werken neues  Leben zu schenken.

Bei einer zukünftigen Chronik der valenzianischen Malerei des ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhundert wird eines der Themen zweifellos die Arten der Wahrnehmung der geometrischen Abstraktion, natürlicherweise mit Angaben zu Verstößen, hybriden Nachschlagewerken, persönlichen Überlegungen und verschiedenen Untersuchungen.

Nicht umsonst hat es seit Mitte des 20. Jahrhundert in Valencia an dieser Art von Kunst nie gefehlt. Diese Kunst hat es geschafft, die Oberfläche des Werkes in den Kernpunkt ihrer Erfahrung zu machen, und dies immer unter den wachen Augen der Geometrie als konstruktivistische Norm.

Die Unabhängigkeit der malerischen Werte beibehaltend und mit den sich selbst vorgeschriebenen Vorschriften spielend, jedoch ohne dabei die Kohärenz zu verlieren, ladet uns Silvia Lerín zu ihren “Rissen in der Materie” ein.

Dabei wird aber nicht vergessen, dass diese Risse ein weiterer Schritt innerhalb dem Spiel der Verhältnisse zwischen Elementen darstellen: Eine Baukunst für den Betrachter, für die Gedanken und für die Gefühle, zwischen der Oberfläche des Vordergrundes und dem Hintergrund.

Natürlicherweise bekommt ihre künstlerische Ausdrucksform noch einmal meine völlige Unterstützung und Anerkennung.

Román de la Calle

Präsident der Real Academia de Bellas Artes de San Carlos, Valencia, September 2009

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